Urteil vom: 24. Oktober 1980
Prozessnummer: BGE 106 IV 350

Am 10. Dezember 1978 befand sich W. als Skifahrer im Gebiet des Corvatschgletschers in Silvaplana. Um ca. 14.30 Uhr fuhr er über den Gletscher hinunter gegen die Bergstation. Auf dem plateauartigen Platz vor der Bergstation befanden sich zwei Gruppen von Skifahrern, die stillstanden und rund 10 Meter voneinander entfernt waren. W. fuhr auf das Plateau und wollte zwischen den beiden Gruppen durchfahren. Dabei kollidierte er mit Frau K., die sich von der einen Personengruppe löste, um zur zweiten, weiter unten befindlichen Gruppe zu fahren. Durch diesen Zusammenstoss erlitt Frau K. einen Knöchelbruch am linken Fuss. Sie hat gegen W. Strafantrag wegen fahrlässiger Körperverletzung gestellt.

Folgerungen: Im Vorbereitungsraum bei einer Bergstation jedenfalls kann der von einer Abfahrt her Einfahrende sich nicht auf ein Vortrittsrecht verlassen, sondern muss seine Fahrweise den besondern Verhältnissen anpassen und darauf gefasst sein, dass ein unaufmerksamer Skifahrer in seine (von ihm frei gewählte) Fahrbahn treten könnte. Diese Vorsichtspflicht in Vorbereitungs- und Warteräumen hat W. klar missachtet und sich damit eines fahrlässigen Verhaltens schuldig gemacht.

Bedeutung der FIS-Regeln: Die FIS-Regeln sind keine Rechtsnormen, sondern Verhaltensempfehlungen, die sich u.a. an Skifahrer richten. Gemäss Bundesgericht lässt sich im vorliegenden Fall keine allgemeine Richtlinie entnehmen, die auf den vorliegenden Fall direkt anwendbar wäre und als Umschreibung pflichtgemässer Vorsicht gelten könne. Die FIS-Regel 2 enthält den Grundsatz: "Jeder Skifahrer muss seine Geschwindigkeit und seine Fahrweise seinem Können und den Gelände- und Witterungsverhältnissen anpassen." In der FIS-Regel 5 wird das Gebot aufgestellt: "Wer in eine Abfahrtsstrecke einfahren oder ein Skigelände queren (traversieren) will, muss sich nach oben und unten vergewissern, dass er dies ohne Gefahr für sich und andere tun kann. Unter Heranziehung dieser beiden Regeln und in analoger Anwendung des im Strassenverkehr geltenden Vertrauensprinzips (vgl. Art. 26 SVG, BGE 104 IV 30 f.) stellte das Bundesgericht folgende anwendbare "Richtlinie" auf: "Wer auf einer Piste fährt, darf sich in der Regel darauf verlassen, dass am Rande stehende oder in der Piste anhaltende Skifahrer ihm den Vortritt lassen und nicht plötzlich quer in seine Fahrbahn hineinkommen. Diese Richtlinie über das Einbiegen und Querfahren auf eigentlichen Abfahrtspisten kann in Vorbereitungs- und Warteräumen, insbesondere bei Berg- und Talstationen von Transportanlagen keine Geltung beanspruchen, so das Bundesgericht. Wer - sei es auch im Auslauf einer Piste - in ein Gebiet kommt, welches vorwiegend zum An- oder Abschnallen der Skis benützt wird, durch Gruppen von stillstehenden Skifahrern charakterisiert ist und keine eindeutig der Abfahrt (Durchfahrt) dienende Piste aufweist, sondern topographisch (verhältnismässig eben) und funktionell als Vorplatz einer Station, Warteraum oder Vorbereitungsareal am Beginn einer Abfahrtsstrecke erkennbar ist, muss damit rechnen, dass die dort befindlichen Personen sich auf diesem Platz bewegen, ohne stets auf passierende Skifahrer mit hoher Geschwindigkeit gefasst zu sein. Zwar wird man auch auf einer solchen Vorbereitungs- oder Wartefläche verlangen müssen, dass jeder, der sich in Bewegung setzt, die Behinderung anderer Skifahrer vermeidet und Durchfahrenden den Weg nicht abschneidet. Anderseits hat derjenige, der zwischen vorhandenen Gruppen durchfahren will, seine Geschwindigkeit und seinen Weg (Abstand von Personen) so zu wählen, dass er der unvermittelten Verschiebung eines stillstehenden Skifahrers ausweichen kann. Er darf in dieser Situation, wenn er sich eben nicht auf einer Piste, sondern auf einer Wartefläche befindet, nicht darauf vertrauen, dass jeder, der seine Fahrbahn kreuzen will, ihn rechtzeitig bemerkt und ihm dann den Vortritt gewährt.


Volltext des Urteils, siehe hier.

Die BFU-Sammlung von Bundesgerichtsentscheiden

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