Urteil vom: 24. November 2006
Prozessnummer: 6P.148/2006

Der Berufschauffeur X hielt mit seinem Bus bei einer an einer Hauptstrasse gelegenen Haltestelle. Fussgänger können diese Strasse auf einem Fussgängerstreifen überqueren und auf einer Verkehrsinsel anhalten, wobei der Fahrzeug- und Personenverkehr über eine Lichtsignalanlage geregelt wird. Auf dieser Verkehrsinsel warteten bei Rotlicht eine Mutter und ihre fünfjährige Tochter. X setzte seine Fahrt fort, als die Ampel für ihn wieder Grün anzeigte. In der Zwischenzeit betrat die Mutter mit der Tochter an der Hand den Fussgängerstreifen. X machte eine Notbremsung (5 m Bremsweg) und wich nach links aus, konnte aber eine Kollision nicht mehr vermeiden. Mutter und Tochter wurden verletzt. Das Mädchen verstarb wenige Tage später im Spital. Y, der Vater des Mädchens, zeigte den Busfahrer wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung an. Die kantonale Justiz stellte das Verfahren ein mit der Begründung, X habe sich keine Sorgfaltspflichtverletzung zuschulden kommen lassen. Y akzeptierte den Entscheid nicht und beschwerte sich dagegen vor Bundesgericht. Dieses bestätigte den Entscheid der Vorinstanz und wies die Beschwerde von Y ab.

Ein Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung erfordert, dass der Täter seine Sorgfaltspflicht verletzt hat. Im vorliegenden Fall bestimmten die Regeln des Strassenverkehrsrechts das zu beachtende Mass an Sorgfalt. Die Ampel zeigte für Mutter und Tochter Rot an, für X hingegen Grün. X hatte somit Vortritt. Auch wenn Ampeln einen Fahrzeugführer nicht gänzlich von seiner Pflicht zur Vorsicht entbinden, kann er gemäss Bundesgericht grundsätzlich darauf vertrauen, dass er bei Grünlicht fahren darf. Er muss sich daher im Prinzip nicht noch vergewissern, ob die Fahrbahn wirklich frei ist. Das Vertrauen in das korrekte Verhalten der anderen Strassenbenützer ist jedoch dann nicht gerechtfertigt, wenn Anzeichen für ein Fehlverhalten bestehen. Zudem ist generell gegenüber Kindern, Älteren und Gebrechlichen eine erhöhte Sorgfalt erforderlich.

Im vorliegenden Fall habe es keinerlei Anzeichen für ein Fehlverhalten von Mutter und Tochter gegeben, zog das Bundesgericht in Betracht. Die beiden hätten die erste Hälfte der Strasse überquert und sich auf die Verkehrsinsel begeben. Da sie dort erst angehalten und nicht den Anschein gemacht hätten weiterzugehen, habe X annehmen können, dass sie das Rotlicht beachten würden. Die Mutter habe die Tochter an der Hand gehalten. X habe deshalb ohne weiteres davon ausgehen dürfen, dass das von einer Erwachsenen begleitete Kind sich ordnungsgemäss verhalten würde. Deshalb habe er nicht eine erhöhte Sorgfalt aufwenden müssen.

Dass die Mutter die Ampel nicht angeschaut hatte, war nach Ansicht des Bundesgerichts für sich genommen kein Hinweis auf ein falsches Verhalten: Es sei üblich, dass Fussgänger am Strassenrand die Ampeln nicht ständig mit den Augen fixieren würden. Unter diesen Umständen habe X keinen Anlass gehabt, vorsorglich zu bremsen oder zu hupen. Er habe vielmehr vorzüglich reagiert und die Gefahr erkannt, als Mutter und Tochter die Fahrbahn betreten hatten. Tatsächlich sei er langsam gefahren und sofort nach links ausgewichen, um eine Kollision zu vermeiden. Eine Sorgfaltspflichtverletzung durch X sei nicht auszumachen, kam das Bundesgericht zum Schluss.

(Prozess-Nr. des Bundesgerichts 6P.148/2006 vereinigt mit 6S.333/2006)

Die BFU-Sammlung von Bundesgerichtsentscheiden

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