Urteil vom: 30. August 2006
Prozessnummer: 6P.39/2006

Ende Februar 1999 kam es oberhalb der Gemeinde E zu mehreren Lawinenniedergängen. Eine Lawine zerstörte das Chalet von M, dessen fünf Bewohner den Tod fanden, und begrub in ihrem weiteren Verlauf vier Kantonsstrassenbenützer, die in der Folge verstarben. Laut einem von den Untersuchungsbehörden in Auftrag gegebenen Expertengutachten war diese Lawine vorhersehbar gewesen. X war seit 1993 Gemeindepräsident von E und laut Gemeindeorganigramm verantwortlich für den Lawinensicherungsdienst. Von Beruf war er Koch und Betreiber einer Gaststätte, über spezifische Kenntnisse im Bereich des Lawinenschutzes verfügte er nicht. Die Leitung des Lawinensicherungsdienstes oblag dem international bekannten Berufsalpinisten Y. Dieser war sehr erfahren in der Erkennung und Einschätzung der mit der spontanen Auslösung von Lawinen auf dem Gemeindegebiet verbundenen Risiken. Y gab immer an, dass er – ungeachtet der gegenteiligen Erklärung des Gemeinderats – als Einziger für den Lawinenschutz verantwortlich und für sämtliche in diesem Bereich notwendigen Massnahmen zuständig sei. Zudem war er vom Kanton mit «Beobachtung und Schutzmassnahmen im Rahmen der Wintersicherung des kantonalen Strassennetzes» beauftragt worden.

Vor den Lawinenniedergängen hatte sich X, der die Lawinengefahr als sehr hoch einschätzte, mit Y und dem Gemeinderat Z getroffen. Dabei erläuterte Y die von ihm getroffenen Massnahmen wie das Sperren einiger Strassen. Evakuierungen hielt er, abgesehen von ein oder zwei Chalets in der roten Zone, für nicht notwendig. Die Gemeinde E war entsprechend den Lawinengefahrenstufen in verschiedene Zonen eingeteilt: rote Zone (relativ häufige und hohe Gefährdung, Errichtung von Gebäuden verboten), blaue Zone (seltene und geringe Gefährdung, keine Gebäude für grössere Personenansammlungen wie Restaurants, verstärkte Bauweise usw.), gelbe Zone (schwache Einwirkung von Staublawinen) und weisse Zone (keinerlei Gefahr). Diese 1973 erstellte Lawinengefahrenkarte war 1976 genehmigt worden. Das Chalet von M war 1979 erbaut worden und befand sich in der blauen Zone, wobei die Grenze zur roten Zone einige Dutzend Meter oberhalb des Hauses verlief. Da die an M ausgestellte Baubewilligung keine Auflagen für besondere Lawinenschutzmassnahmen enthalten hatte, verfügte das Chalet nicht über Stützbauten oder Verstärkungen. Obwohl dies X bekannt war, verzichtete er auf die Anordnung einer Evakuierung.

Im Januar 2006 wurde X kantonal letztinstanzlich wegen fahrlässiger Tötung zu einem Monat Gefängnis verurteilt, bedingt vollziehbar bei einer Bewährungsfrist von zwei Jahren. Y seinerseits wurde wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs mit zwei Monaten Gefängnis bedingt bei einer Probezeit von zwei Jahren verurteilt. Das Bundesgericht bestätigte die Urteile der kantonalen Justiz.

Der Gemeindepräsident X hatte seine Sorgfaltspflicht verletzt, indem er es unterlassen hatte, unabhängig vom ihm unterstellten Sicherheitschef die Evakuation der Siedlungen im blauen Gebiet und damit auch des Chalets von M anzuordnen. Obwohl X sich grundsätzlich auf die Ratschläge von Y, dem Spezialisten in technischen Fragen, verlassen konnte, hätte er sich dennoch selbst vergewissern müssen, dass dieser die Situation richtig beurteilt und die sich angesichts der drohenden Lawinengefahr aufdrängenden Massnahmen veranlasst hatte. Der Ernst der Lage habe das persönliche Eingreifen von X und eine Absprache mit dem Sicherheitschef erfordert, hielt das Bundesgericht fest. X hätte seine Aufgaben somit nicht einfach delegieren dürfen, sondern eine gewisse Kontrolle ausüben müssen (cura in custodiendo). Er hätte insbesondere die Lawinengefahrenkarte studieren und angesichts der ausserordentlichen Gefahrensituation die Evakuation des Chalets von M anordnen müssen. Zudem hätte er aufgrund der Gefahrenkarte festgestellt, dass Y zwar die Wohnhäuser im roten Gebiet hatte schützen wollen, aber keinerlei Massnahmen für die Verkehrswege getroffen hatte, die sich in derselben Zone befanden. Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung sei rechtens, befand das Bundesgericht. Die nahezu sieben Jahre zwischen Lawinenunglück und kantonal letztinstanzlichem Urteil erachtete es zwar zugunsten von X als eine «verhältnismässig lange Zeit». Doch weil die kantonale Justiz die lange Verfahrensdauer bereits als mildernden Umstand bei der Strafzumessung berücksichtigt hatte, wies es die Beschwerde von X vollumfänglich ab.

Ausschlaggebend für die Abweisung der Beschwerde von Y war Folgendes: Y hatte als kommunaler und regionaler Lawinensicherheitschef sowohl in Bezug auf das Chalet und die Kantonsstrasse eine Garantenstellung inne gehabt. Er hatte die Lawinengefahr richtig erkannt und war sich der damit verbundenen Risiken bewusst gewesen. Er hätte sich deshalb nicht einfach auf seine persönliche Erfahrung verlassen dürfen, sondern die Lawinengefahrenkarte der Gemeinde und die Lawinenbulletins konsultieren müssen. In Anbetracht der Witterungsverhältnisse hatte im Tal höchste Lawinengefahr geherrscht. Y hätte somit damit rechnen müssen, dass eine Lawine in die rote oder blaue Zone vorstossen würde. Dass die Lawine ein grösseres Ausmass hatte als es vorhersehbar gewesen war, hatte ihn nicht von der Pflicht entbunden, Schutzmassnahmen für die als gefährdet eingestuften Gebiete zu veranlassen. Folglich hatte Y seine Sorgfaltspflicht verletzt, weil er es unterlassen hatte, das in der blauen Zone gelegene Chalet von M zu evakuieren und die Kantonsstrasse zu sperren (diese durchquerte die rote Zone an mehreren Stellen und umfasste bedeutende Teilstücke in der blauen Zone). Hätte Y die gebotene Sorgfalt beachtet, wären die Bewohner des Chalets und die Strassenbenützer nicht umgekommen (natürliche Kausalität). Der Verzicht von Massnahmen zum Schutz der Siedlungen und Verkehrswege in der blauen und roten Zone war angesichts der konkreten Lawinengefahr nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet gewesen, zum Tod der Opfer zu führen (adäquate Kausalität). Y sei somit zu Recht der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden worden, befand das Bundesgericht und bestätigte im Übrigen auch den Schuldspruch wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs.

(Prozess-Nr. des Bundesgerichts 6P.39/2006 vereinigt mit 6S.75/2006 sowie 6P.40/2006 vereinigt mit 6S.76/2006, Pra [Die Praxis des Bundesgerichts] 10/2007 Nr. 118 und Nr. 119)

Die BFU-Sammlung von Bundesgerichtsentscheiden

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