Urteil vom: 16. Februar 2005
Prozessnummer: 6S.366/2004

X fuhr kurz nach Mitternacht mit seinem Taxi durch Zürich. Unmittelbar vor einem Fussgängerstreifen hielt er an, um den von einer Traminsel kommenden Fussgängern A und B den Vortritt zu gewähren. Mit Handzeichen trieb er die beiden zur Eile an. Als sie fast am Taxi vorbei waren, beschleunigte er aus dem Stillstand und fuhr mit einer Geschwindigkeit von 15 km/h nur 30–40 cm hinter ihnen durch.

Das Obergericht des Kantons Zürich befand X deswegen in zweiter Instanz der groben Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG (Strassenverkehrsgesetz) in Verbindung mit Art. 34 Abs. 4 SVG für schuldig. Hingegen wurde er vom Vorwurf der Verletzung der Pflicht, Fussgängern das Überqueren der Fahrbahn in angemessener Weise zu ermöglichen, freigesprochen. X war der Meinung, bloss eine einfache Verkehrsregelverletzung begangen zu haben und beschwerte sich in Lausanne erfolgreich gegen das Urteil des Obergerichts.

Art. 90 Ziff. 1 SVG droht demjenigen, der Strassenverkehrsregeln verletzt, Haft oder Busse an (einfache Verkehrsregelverletzung). Wer allerdings durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG mit Gefängnis oder mit Busse bestraft. Art. 34 Abs. 4 SVG ist eine zentrale Vorschrift zum Schutz der anderen Verkehrsteilnehmer. Sie besagt, dass gegenüber sämtlichen Strassenbenützern ein ausreichender Abstand zu wahren ist, namentlich beim Kreuzen und Überholen sowie beim Neben- und Hintereinanderfahren. Diese Abstandsregel richtet sich ebenso an motorlose Fahrzeuge wie an Motorfahrzeuge. Insbesondere gilt sie auch gegenüber Fussgängern, und zwar bei jeglichem Vorbeifahren. Wenn zum Vortritt berechtigte Fussgänger einen Fussgängerstreifen überqueren, müssen die vortrittsbelasteten Fahrzeuge ihnen das Überqueren der Fahrbahn in angemessener Weise ermöglichen. Sie haben also so lange zu warten, bis die Fussgänger die Fahrbahn vollständig überquert haben bzw. eine gefahrlose Durchfahrt mit einem genügenden Sicherheitsabstand möglich ist. Die Grösse des seitlichen Abstands gegenüber Fussgängern ist nicht generell festgelegt. Sie richtet sich z. B. nach der Breite der Fahrbahn, den Verkehrs- und Sichtverhältnissen, der Geschwindigkeit des Fahrzeugs sowie dem Alter und dem Verhalten der Fussgänger.

In Bezug auf den vorliegenden Fall kam das Bundesgericht zum Schluss, X habe die Abstandsregel in nicht nur leichter Art und Weise missachtet. Aus Ungeduld habe er nicht abgewartet, bis die Fussgänger den Streifen ganz oder zumindest weitgehend überquert hätten, sondern sei mit ganz klar ungenügendem Abstand hinter ihnen durchgefahren. Allerdings fehle es an einer konkreten oder erhöht abstrakten Gefahr für die Fussgänger im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG. A und B hätten sich von der Fahrbahn weg zum Trottoir hin bewegt. Der Beschwerdeführer habe offensichtlich als Berufsfahrer darauf vertraut, dass sie während der zeitlichen Verzögerung des Anfahrens und Befahrens des Fussgängerstreifens bereits eine genügende Strecke zurückgelegt hätten, um gefahrlos an ihnen vorbeizufahren, so das Bundesgericht. Das Fahrzeug habe sich beim Kreuzen hinter den Fussgängern befunden. Deshalb liege eine mögliche Fehlreaktion von A und B – wie ein Schritt zurück oder ein Drehen des Körpers – bei der gefahrenen Geschwindigkeit und dem Abstand von 30–40 cm eher fern. X habe, wie er selber einräume, objektiv und subjektiv eine mittelschwere Widerhandlung gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG begangen.

Die Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung wurde aufgehoben und zur Neubeurteilung ans Obergericht zurückgewiesen.

(Prozess-Nr. des Bundesgerichts 6S.366/2004)

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