Urteil vom: 9. Juni 2011
Prozessnummer: 6B_941/2010
Im Rahmen des Schwimmunterrichts einer 1. und 2. Einschulungsklasse kam es im Lernschwimmbecken eines Hallenbades zu einem tragischen Unfall. Für einige Schüler, darunter auch den 7jährigen O, war es die 1. Schwimmlektion überhaupt. Ziel dieser Stunde war die Wassergewöhnung. Ausser der Lehrerin, die über eine Berechtigung zum Schwimmunterricht sowie ein Brevet im Rettungsschwimmen verfügte und 11 Kinder zu beaufsichtigen hatte, befand sich noch eine weitere Betreuerin im Hallenbad, welche ausschliesslich für einen autistischen Schüler zuständig war. Nach einer kurzen Instruktion liess die Lehrerin die Schüler ohne Schwimmhilfen, aber mit Spielsachen aus Schaumgummi ins Lernschwimmbecken, beobachtete sie erst stehend und anschliessend von der sich am Beckenrand befindenden Treppe aus sitzend. Dabei unterhielt sie sich mit der anderen Betreuerin darüber, wie sich die Kinder im Wasser verhielten, und stand bei Bedarf zwischendurch auf um einem Kind Anweisungen zu erteilen. Die Kinder plantschten und spielten miteinander, nichts war aussergewöhnlich – bis die Lehrerin plötzlich den leblosen Körper von O entdeckte. Sie eilte sofort ins Wasser, zog ihn aus dem Becken, brachte ihn in Seitenlage und wies die andere Betreuerin an, die Ambulanz zu benachrichtigen. Eine weitere Lehrerin kam hinzu und begann mit der Reanimation. Die Ambulanz traf etwa 20 Minuten nach Entdeckung von O ein. Der Knabe, der gemäss rechtsmedizinischem Gutachten offenbar keine Selbstrettungsmassnahmen ergriffen hatte, verstarb am nächsten Tag.
In der Folge wurde die verantwortliche Lehrerin erstinstanzlich vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei gesprochen, in zweiter Instanz aber für schuldig befunden. Dagegen wehrte sie sich vor Bundesgericht, welches ihre Beschwerde teilweise gut hiess und zu weiteren Abklärungen sowie zur Neubeurteilung an die Vorinstanz (kantonales Obergericht) zurückwies. Diese bestätigte den erstinstanzlichen Freispruch aus folgenden Gründen:
Eine Lehrperson trifft gegenüber den ihr anvertrauten Schülern eine Garantenpflicht. Sie hat daher alles Zumutbare vorzukehren, um das Leben und die Gesundheit der Schüler, deren Obhut ihr übertragen ist, zu schützen. Gemäss Gericht hatte die Lehrerin ihre Aufsichtspflicht durch mangelhafte Instruktion und Überwachung pflichtwidrig verletzt. Sie hätte sich auch nicht auf die Aussage eines 7jährigen, er könne schwimmen, verlassen dürfen. Bei Primarschülern im Alter von 6-8 Jahren sei, insbesondere während der ersten Schwimmstunde, eine lückenlose und permanente Überwachung angezeigt. Bei einem Ertrinkungsunfall komme es oft zu einem sog. Stimmlippenkrampf, der rasch zu einem Bewusstseinsverlust führen kann, sodass das Opfer ohne Gegenwehr lautlos versinkt. Hätte die Lehrerin die Kinder nicht sitzend, sondern stehend von einem anderen Standpunkt aus beobachtet und ihnen nicht erlaubt, sich grundsätzlich im ganzen Becken bzw. dort, wo sie stehen konnten zu bewegen, hätte sie einen besseren Überblick gehabt und sofort bemerkt, dass O mit dem Kopf unter Wasser geraten war.
Die zeitlichen Abläufe des Unfallhergangs liessen sich jedoch nachträglich nicht mehr im Detail feststellen. Deshalb konnte auch die Frage, ob das Leben von O bei pflichtgemässem Handeln bzw. besserer Überwachung (und folglich sofortiger Reanimation und einem etwas früheren Einsatz der Ambulanz) hätte gerettet werden können, nicht beantwortet werden. Das Gericht kam daher zum Schluss, insgesamt könne der Lehrerin keine relevante bzw. kausale Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden. Der Unfall könne ihr strafrechtlich nicht zugerechnet werden.
Prozess-Nr. des Bundesgerichts 6B_941/2010, Urteil vom 09.06.2011
Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 15.9.2011, Prozess-Nr. ST.2009.101/StA.2009.3304
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