​Vielleicht ist Ihnen das auch schon passiert: Sie fuhren gedankenverloren auf der Strasse und plötzlich trat ein Kind auf die Strasse. Zum Glück konnten Sie ausweichen. Wäre dies aber nicht der Fall gewesen, müssten Sie neben den physischen und psychischen Folgen, die ein solches Drama für alle Beteiligten mit sich bringen kann, auch die rechtlichen Konsequenzen tragen?

Rechtliche Zusammenfassung

Die grundlegende Vorsichtsregel, die für alle Strassenbenützer (auch für Fussgänger) gilt, ist die Achtung der anderen Verkehrsteilnehmer (Art. 26 Abs. 1 des Strassenverkehrsgesetzes [SVG]). Man spricht vom sogenannten Vertrauensgrundsatz, d. h., man darf darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäss verhalten, sofern nicht besondere Umstände dagegen sprechen.

In bestimmten Situationen und/oder gegenüber bestimmten Menschen tritt das Vertrauensprinzip jedoch in den Hintergrund und es bedarf erhöhter Aufmerksamkeit. Man spricht vom sogenannten Misstrauensgrundsatz (Art. 26 Abs. 2 SVG): «Besondere Vorsicht ist geboten gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, ebenso wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird.» Wenn ein anderer Verkehrsteilnehmer offensichtlich einen Fehler begeht oder konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er die für ihn geltenden Regeln nicht einhalten wird, muss man selbstverständlich alles unternehmen, um einen Schaden zu verhindern (z. B. abbremsen, ausweichen und/oder hupen), selbst wenn man Vortritt hat.

Bei Strassenbenützern, die zu einer Kategorie von gefährdeten Verkehrsteilnehmern gehören, wie beispielsweise Kinder, liegt der Grund für den Misstrauensgrundsatz darin, dass Kinder im Strassenverkehr besonders gefährdet sind. Viele Fähigkeiten, die für die sichere Verkehrsteilnahme benötigt werden, sind bei ihnen erst in Entwicklung. Ihre geringe Körpergrösse erschwert den Überblick und sie werden von Fahrzeuglenkenden leicht übersehen. Ihre Erfahrungen als aktive Verkehrsteilnehmer sind zudem noch begrenzt. Zuverlässiges verkehrssicheres Verhalten kann von Kindern deshalb nicht erwartet werden (weiterführende Hinweise dazu im BFU-Sicherheitsdossier «Sicherheit von Kindern im Strassenverkehr»). Deshalb muss der Fahrer bei Kindern besonders vorsichtig sein. In Anbetracht der jüngsten Rechtsprechung scheint das Alter von 14 Jahren die Obergrenze für den besonderen Schutz gemäss Art. 26 Abs. 2 SVG zu bilden. Dabei handelt es sich nicht um eine starre Grenze: Sie hängt von den konkreten Umständen des Falles ab. Die blosse Anwesenheit eines Kindes erfordert erhöhte Aufmerksamkeit, auch wenn es keinen konkreten Hinweis auf ein mögliches Fehlverhalten gibt. Gemäss Rechtsprechung ist die Grösse einer Person ein entscheidendes Kriterium, um festzustellen, ob die Person als Kind wahrgenommen werden kann.

Tipps

Damit ein Fahrer richtigerweise davon ausgehen kann, dass ein Kind sich korrekt verhalten wird, sind besondere Umstände erforderlich. Besondere Umstände werden in der Regel nur restriktiv angenommen. Je jünger das Kind ist, desto unzuverlässiger ist es. Der Fahrer muss entsprechend aufmerksamer sein. Befindet sich beispielsweise ein Kleinkind am Rand der Fahrbahn und will diese überqueren, kann der Fahrer nicht auf sein Vortrittsrecht pochen, auch wenn es keinen konkreten Hinweis auf ein mögliches Fehlverhalten gibt. Er muss sich vergewissern, dass das Kind die drohende Gefahr wahrgenommen hat und zeigt, dass es sich korrekt verhalten wird. Ansonsten muss der Fahrer bremsen und ein akustisches Warnsignal geben. Kann trotz dieser Vorsichtsmassnahmen die Gefährdung des Kindes nicht ausgeschlossen werden, muss der Fahrer anhalten. Diese erhöhte Vorsicht gegenüber Kindern ist auch in Art. 29 Abs. 2 der Verkehrsregelnverordnung (VRV) vorgesehen, wonach der Fahrer akustische Warnsignale geben muss, wenn Kinder im Strassenbereich nicht auf den Verkehr achten.

Vorsicht ist auch geboten, wenn das Kind in Begleitung eines Erwachsenen ist. Nur wenn das Kind fest an der Hand gehalten wird, kann der Fahrer erwarten, dass es sich korrekt verhält und folglich nicht gefährdet wird. Fest an der Hand halten heisst, dass das Kind überwacht wird und die erwachsene Person jederzeit Einfluss auf sein Verhalten ausüben kann.

Selbst gegenüber einer Gruppe älterer Kinder muss der Fahrer, je nach den Umständen, aufmerksamer sein. Beispiel: Eine Gruppe Jugendlicher im Alter zwischen 14 und 15 Jahren wartet an einer Ampel, um die Strasse zu überqueren. Ein Fahrer, der sich der Gruppe nähert, muss seine Geschwindigkeit verringern oder zumindest bremsbereit sein. Dies selbst dann, wenn die Ampel für ihn auf Grün steht und es keinen konkreten Hinweis darauf gibt, dass sich einer der Jugendlichen nicht korrekt verhalten wird.

Beispiele aus der Rechtsprechung

Kollision zwischen einem Personenwagen und einem plötzlich auf die Strasse springenden begleiteten Kind (BGE 129 IV 282 vom 26. Mai 2003 und 1P.313/2004 vom 2. November 2004)

Ein Autofahrer fuhr mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 40 km/h in einem verkehrsarmen Gebiet, als plötzlich zu seiner Linken ein 5-jähriges Kind, das von seiner 18-jährigen Babysitterin begleitet wurde, auf die Strasse sprang. Die beiden Fussgänger befanden sich auf der linken Strassenseite, die kein Trottoir aufweist, und beabsichtigten offensichtlich, die Strasse zu überqueren. Da das Kind auf der linken Seite seiner Begleiterin gestanden hatte, aus Sicht des Fahrers hinter ihr und teilweise verdeckt, konnte der Fahrer nicht erkennen, ob diese das Kind an der Hand hielt oder nicht. Obwohl der Fahrer sein Tempo mässigte und Bremsbereitschaft herstellte, hätte er nicht nur auf die Begleiterin achten, sondern sich auch auf das Kind konzentrieren müssen. Insbesondere hätte er nicht davon ausgehen dürfen, die Begleiterin halte es fest. Er wäre deshalb verpflichtet gewesen, die zweideutige Situation wenigstens mit einem Warnsignal zu klären oder gar sein Tempo so weit zu mässigen, dass er vor den Fussgängern hätte anhalten können.
Aus strafrechtlicher Sicht wurde der Fahrer wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

Überlegungen des Bundesgerichts bezüglich Reife der Kinder im Strassenverkehr (Erwägung 2.2.2 des Entscheides): «Der gesetzlichen Regelung der Sorgfaltspflichten gegenüber Kindern liegt die entwicklungspsychologische Tatsache zu Grunde, dass Kinder wenigstens bis zu einem gewissen Alter gar nicht oder nur sehr beschränkt in der Lage sind, die Gefahren des Verkehrs kognitiv zu verarbeiten. Untersuchungen geben Anlass zur Annahme, dass Kinder zum Teil bis zu zwölf Jahren typische Verkehrsgefahren überhaupt nicht verstehen (vgl. SCHAFFHAUSER, a.a.O., N. 443, mit Hinweisen). Kinder verfügen über ein engeres Blickfeld als Erwachsene. Sie können bewegte Objekte im Raum wahrnehmungsmässig nicht miteinander koordinieren und ihr Wahrnehmungsprozess ist gegenüber demjenigen Erwachsener verlangsamt. Unabhängig von ihren kognitiven Fähigkeiten sind Kinder ausserdem in ihrem Verhalten sprunghaft und in besonderem Masse unberechenbar; sie beherrschen ihren Körper nur beschränkt und neigen zu unvorhersehbaren Spontanreaktionen auf innere und äussere Reize (vgl. SCHAFFHAUSER, ebd., mit Hinweisen). Trotz des besonderen normativen Schutzes, den der Gesetzgeber Kindern im Strassenverkehr gewährt, gehören Kinder zwischen 4 und 14 Jahren zu derjenigen Fussgängergruppe, die im Strassenverkehr anteilsmässig am häufigsten Opfer schwerer oder tödlicher Verletzungen wird (vgl. Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK, Bundesamt für Strassen ASTRA: Erarbeitung der Grundlagen für eine Verkehrssicherheitspolitik des Bundes, 2002, Schlussbericht, S. 29).»

Kollision zwischen einem Lieferwagen und einem knapp 13 Jahre alten Mädchen auf einem Kinderfahrrad (Urteile 6B_302/2011 und 6B_313/2011 vom 29. August 2011)

Ein knapp 13 Jahre altes Mädchen war auf seinem Kindervelo auf einer Nebenstrasse unterwegs. Sie hielt einen Moment an, um die Hauptstrasse zu überqueren, dann fuhr sie los und wurde von einem Lieferwagen erfasst. Obwohl der Fahrer des Lieferwagens vortrittsberechtigt war, hätte er laut Bundesgericht das Mädchen als Kind wahrnehmen und früher reagieren sollen. Mit einem Gewicht von 30 kg und einer Grösse von 145 cm hatte es die Statur eines 11-jährigen Kindes. Das Bundesgericht zieht auch in Betracht, dass die Sicht- und Witterungsverhältnisse gut waren und es keine Anzeichen dafür gab, dass der Fahrer keine freie Sicht auf die Verzweigung gehabt hätte. Zudem war das Kind mit einem Kindervelo unterwegs, so dass der Fahrer besondere Vorsicht hätte walten lassen müssen. Er hätte die Geschwindigkeit mässigen und/oder ein akustisches Warnsignal abgeben sollen.
Aus strafrechtlicher Sicht wurde der Lenker der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig gesprochen.

Kind im Alter von 4 Jahren und 11 Monaten, in Begleitung seiner 9-jährigen Schwester, von einem Motorroller erfasst, als es unerwartet auf die Strasse trat (BGer 4A_179/2016, 30. August 2016)

X war mit seinem Motorroller auf einer Gemeindestrasse unterwegs, während auf dem rechten Trottoir ein vier Jahre und elf Monate alter Knabe in Begleitung seiner 9-jährigen Schwester in die gleiche Richtung lief. Nach den Aussagen des Rollerfahrers sah er zuerst Fussgänger auf beiden Seiten der Strasse, in der Nähe einer Bushaltestelle und eines Fussgängerstreifens. Er verringerte seine Geschwindigkeit und änderte den Kurs seines Fahrzeugs. Darauf sah er den kleinen Knaben in Begleitung seiner Schwester, denen er sich von hinten näherte, und bemerkte, dass das jüngere Kind, der kleine Knabe, unruhig war. Plötzlich trat der kleine Knabe unvermittelt vom Trottoir auf die Strasse und wurde vom Rollerfahrer erfasst. Obwohl der Rollerfahrer seine Geschwindigkeit verringert hatte, hätte er dies noch stärker machen sollen, oder sogar anhalten und die Hupe betätigen sollen, um dem Jungen, der offensichtlich nicht auf den Verkehr achtete, seine Anwesenheit zu signalisieren.

Aus strafrechtlicher Sicht wurde der Rollerfahrer der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig gesprochen.

Zivilrechtlich wurde festgestellt, dass der Junge hyperaktiv war, seine Familie kürzlich in die Schweiz eingewandert war und er keine Verkehrserziehung erhalten hatte. Seine Mutter, die ihn üblicherweise begleitete, war verhindert, weshalb sie ihn der älteren Schwester anvertraut hatte. Das Bundesgericht hat die Mutter des kleinen Knaben als zivilrechtlich mitverantwortlich angesehen, insoweit sie ihn einem Erwachsenen hätte anvertrauen sollen.

Kollision zwischen einer 12-jährigen Velofahrerin und einem Personenwagen (Urteile 6P.17/2004 und 6S.49/2004 vom 4. August 2004)

Eine 12-jährige Velofahrerin fuhr mit einer Gruppe von Schulkindern auf einem Radweg parallel zur Hauptstrasse zur Schule. Dieser Radweg mündet ohne Vortrittsrecht in die Hauptstrasse (ausserorts). Als die junge Velofahrerin vom Radweg auf die Hauptstrasse fuhr, stiess sie mit einem Personenwagen zusammen, der mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit (80 km/h) in die gleiche Richtung wie sie fuhr. Laut Bundesgericht sah und erkannte der ortskundige Lenker des Personenwagens eine Gruppe von auf dem Radweg fahrenden Kindern, als er sich dem Punkt näherte, an dem der Radweg in die Hauptstrasse mündet. Er verringerte seine Geschwindigkeit nicht, obwohl die Absicht der Kinder, die Hauptstrasse zu überqueren oder zumindest in sie einzubiegen, offensichtlich war, und er insbesondere die Örtlichkeiten kannte. In Gegenwart dieser Kinder hätte er eine erhöhte Vorsicht an den Tag legen müssen, indem er seine Geschwindigkeit hätte verringern und seine besondere Aufmerksamkeit auf deren Verhalten hätte richten müssen.

Der Lenker wurde der der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig gesprochen.

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