Geschwindigkeit im Strassenverkehr – was verlangt das Recht?
Hohe Geschwindigkeit erhöht das Unfallrisiko und beeinflusst die Unfallschwere wie fast kein anderer Faktor. Die gefahrene Geschwindigkeit ist rechtlich betrachtet mitentscheidend dafür, ob Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführer ihr Fahrzeug so beherrschen können, dass sie ihren Vorsichtspflichten im Strassenverkehr nachkommen können. Art. 32 Abs. 1 Strassenverkehrsgesetz (SVG) verlangt, die Geschwindigkeit stets den Umständen anzupassen. Dieses Gebot gilt im Rahmen der jeweils gültigen Höchstgeschwindigkeit.
Massgebende Umstände gemäss Gesetz
Art. 32 Abs. 1 SVG zählt in einem nicht abschliessenden Katalog folgende Umstände auf:
Strassenverhältnisse
Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführer müssen die Geschwindigkeit ihres Fahrzeugs der Art und dem baulichen Zustand der Strasse anpassen. Überdies muss den Verhältnissen auf der Strasse Rechnung getragen werden (z. B. Schnee, Eis, Nässe, Laub). Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu:
- Wer trotz starkem Regen auf der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h fährt und infolge Aquaplanings ins Schleudern gerät, gefährdet den Verkehr in schwerer Weise (Bundesgerichtsurteil 120 Ib 312 vom 3.11.1994). Lesen Sie die Zusammenfassung dieses Urteils
- Wenn die Strasse vereist ist, müssen Fahrzeugführerinnen und -führer die nötige Vorsicht walten lassen, um ein Schleudern des Fahrzeugs zu verhindern; nötigenfalls haben sie im Schritttempo zu fahren (Bundesgerichtsurteil 101 IV 221 vom 23.5.1975). Lesen Sie dieses Urteils hier.
- Auf Bergstrassen müssen Fahrerinnen und Fahrer im Winter mit Fahrrinnen, die sich im harten Schnee bilden, rechnen und ihre Fahrweise darauf einstellen (Bundesgerichtsurteil 102 II 343 vom 15.10.1976). Lesen Sie die Analyse dieses Urteils hier.
Verkehrsverhältnisse
Fahrzeugführerinnen und -führer müssen die Fahrgeschwindigkeit so wählen, dass sie bei verschiedenen Verkehrsverhältnissen ihr Fahrzeug beherrschen und ihren Vorsichtspflichten nachkommen können. Unter anderem folgende Situationen müssen besonders beachtet werden: sehr dichter und stark durchmischter Verkehr; unübersichtliche Verhältnisse; Kinder im Strassenbereich, die nicht auf den Verkehr achten. Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu:
- Mangelhafte Anpassung der Geschwindigkeit an die Verkehrs- und Sichtverhältnisse (reger Verkehr, Dämmerung) – Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung (Bundesgerichtsurteil 6B_520/2008 vom 28.10.2008). Lesen Sie die Zusammenfassung dieses Urteils hier.
- Innerorts mit 77 km/h an einem nahe der Strasse gelegenen Kindergarten vorbeigefahren zu einer Zeit, wo sich dort Kinder befanden – Führerausweisentzug (Bundesgerichtsurteil 121 II 127 vom 26.4.1995). Lesen Sie die Zusammenfassung dieses Urteils
Sichtverhältnisse
Art. 4 Abs. 1 Verkehrsregelnverordnung (VRV) bestimmt, dass Fahrzeugführerinnen und -führer nur so schnell fahren dürfen, wie sie innerhalb der überblickbaren Strecke halten können. Wo das Kreuzen schwierig ist, müssen sie auf halbe Sichtweite halten können. Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu:
- Anpassung der Geschwindigkeit an die konkreten Sichtverhältnisse – diese Regel gilt auch auf Autobahnen, insbesondere nachts beim Fahren mit Abblendlicht (Bundesgerichtsurteil 126 IV 91 vom 6.4.2000). Lesen Sie die Zusammenfassung dieses Urteils hier.
- Ausserorts bei dichtem Nebel, keiner Strassenbeleuchtung, Temperaturen um den Gefrierpunkt, feuchter Fahrbahn und einer Sichtweite von nur 50m auf 70 km/h beschleunigt und zum Überholen von zwei PWs angesetzt – eventualvorsätzliche Tötung eines entgegenkommenden Motorradfahrers (Bundesgerichtsurteil 6B_1050/2017 vom 20.12.2017). Lesen Sie die Zusammenfassung dieses Urteils hier.
- Ausserorts talwärts mit 60- 65 km/h in Richtung einer Bahnunterführung und einer unmittelbar nach dieser liegenden Strassenmündung gefahren, obschon die Sichtweite nur 25 – 30m betrug: Verurteilung wegen Verkehrsregelverletzung (Bundesgerichtsurteil 6B_299/2011 vom 1.9.2011). Lesen Sie dieses Urteils hier.
Weitere relevante Umstände gemäss Rechtsprechung
Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass auch Eigenschaften und Fähigkeiten der Fahrzeugführerin oder des Fahrzeugführers zu berücksichtigen sind. Beispiele dazu:
Unerfahrenheit der Fahrzeugführerin oder des Fahrzeugführers
Unerfahrene Fahrzeugführerinnen und -führer müssen diesem Umstand auch bei der Wahl der Geschwindigkeit Rechnung tragen. Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu:
- Neulenker, der mit 93 km/ auf einen Fussgängerstreifen zu gefahren ist: Eventualvorsätzliche Tötung und mehrfache versuchte Tötung bestätigt (Bundesgerichtsurteil 6B_863/2017 vom 27.11.2017). Lesen Sie die Zusammenfassung dieses Urteils hier.
Ungenügende Kenntnisse des Fahrzeugs
Wer die Reaktionen seines Fahrzeugs noch nicht ausreichend kennt und mit einer den Umständen (z. B. Verkehrsdichte) nicht angepassten Geschwindigkeit fährt, verhält sich in einer Weise, die geeignet ist, einen Unfall herbeizuführen (Bundesgerichtsurteil 101 IV 67 vom 25.2.1975). Lesen Sie dieses Urteils hier.
Geschwindigkeitsbegrenzungen
Der Gesetzgeber hat einerseits allgemein gültige Höchstgeschwindigkeiten (z. B. 120 km/h auf Autobahnen), anderseits besondere Höchstgeschwindigkeiten für einzelne Fahrzeugkategorien bzw. Vorgänge festgesetzt (vgl. dazu Art. 4a und Art. 5 VRV).
Die Geschwindigkeitsbegrenzungen sind absolute Höchstgeschwindigkeiten
Sie müssen also auch dann eingehalten werden, wenn auf der entsprechenden Strecke aufgrund der gesamten Umstände eine höhere Geschwindigkeit angemessen erscheint.
Die Höchstgeschwindigkeiten dürfen nicht unter allen Umständen ausgefahren werden
Höchstgeschwindigkeiten dürfen nicht unter allen Umständen ausgefahren werden, sondern nur bei günstigen Verhältnissen. Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu:
- Kollision eines Geländewagens mit achtjähriger Fussgängerin – das Tempolimit in Wohnquartieren darf nicht immer ausgefahren werden: Verurteilung wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung (Bundesgerichtsurteil 6S.107/2007 vom 11.6.2007). Lesen Sie die Zusammenfassung dieses Urteils hier.
- Zur Mittagszeit bei regem Verkehr, Fussgängern auf beiden Trottoirs und einer Gruppe spielender Kinder mit 50 km/h auf den Fussgängerstreifen zu gefahren: Verurteilung wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung (Bundesgerichtsurteil 121 IV 286 vom 31.8.1995). Lesen Sie die Zusammenfassung dieses Urteils hier.
Neuerungen seit 1.1.2021
Seit dem 1. Januar 2021 dürfen leichte Motorwagen mit Anhänger, sofern das Gesamtgewicht des Anhängers 3,5 t nicht übersteigt, auf Autobahnen und Autostrassen neu 100 km/h (bisher 80 km/h) fahren, sofern Anhänger, Reifen und Zugfahrzeug für diese Geschwindigkeit zugelassen sind. Die Klärung der Zulassung obliegt der Verantwortung der Fahrzeugführerinnen und -führer.
Insbesondere bei Pferdetransporten empfiehlt die BFU, wegen des hohen sich verändernden Schwerpunkts die neu zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht unbedingt auszufahren. Damit leisten Sie einen Beitrag zur Verkehrssicherheit.
Fazit
- Halten Sie sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Diese sind auch dann einzuhalten, wenn Ihnen eine höhere Geschwindigkeit angemessen erscheint.
- Die signalisierten Höchstgeschwindigkeiten dürfen höchstens bei günstigen Verhältnissen ausgefahren werden.
- Die Geschwindigkeit muss stets den jeweiligen Umständen angepasst werden.
Weitere Informationen
Mehr zum Thema Geschwindigkeit finden Sie in unserem Ratgeber «Geschwindigkeit im Strassenverkehr».